Texte

Die drei Grazien · Brühmann-Venus · liegender Akt (Detail) I 2023

gewalt macht lust

Eröffnungsrede Dr. Katrin Burtschell, Städtische Galerie Ehingen, 12.12.2019

Die Comicfigur Fritz the Cat, ein arbeitsscheuer, sex- und drogensüchtiger Kater, wurde 1959 von Robert Crumb als Ikone des Anti-Establishments geschaffen
und ist hier in dieser Ausstellung nur einer von Wolfgang Dicks hintersinnigen Bildgegenständen, die überraschen und buchstäblich aus dem
Rahmen fallen.

„Crumb-Malewitsch the „Fritz“-Cat et le carré noir“, lautet der Titel dieser Arbeit, womit Wolfgang Dick einen ungeheuerlichen Spagat schafft und ein Jahrhundert bahnbrechender Kunstgeschichte auf einer Fläche von 48 x 38 cm bannt: das von Kriegswirren und Faschismus gezeichnete 20. Jahrhundert, die vielschichtige Geburtsstunde der Moderne, der Weg vom Gegenständlichen zur Abstraktion über das Universelle bis hin zur unangepassten Comic-Kunst eines Robert Crumb.

Durch die Zahnlücke der Katze blitzt das kunsthistorische Zitat auf, das schwarze Quadrat Malewitschs. Doch der Titel „The Fritz Cat“ – als The Fritz wurden die Deutschen von den amerikanischen und englischen Alliierten bezeichnet – sowie die Handbewegung der Katze verdrängen für einen kurzen Moment die kunsthistorische Konnotation und machen einer anderen Bedeutung Platz: die Assoziation einer Hitlerpersiflage ist da, steht aber nicht im Vordergrund, denn diese Bedeutung wird sofort wieder relativiert durchdas erneute Zitieren des schwarzen Quadrates im Hintergrund. Und über allem, über dem Wortspiel, dem Zitieren und den Assoziationen liegt die eigene Handschrift Wolfgang Dicks, sein Suchen nach der perfekten Form.

Ungeheuerlich dieser Wolfgang Dick, da bringt er ein Jahrhundert Kunstund Zeitgeschichte auf die einfache Formel eines unangepassten Katers und demonstriert gleichzeitig, dass er ein Meister der Form ist. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen, Punkt. Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

„The Fritz Cat“ – der Außenseiter des Establishments und genau genommen auch dieser Ausstellung stellt nur eine Facette in einem facettenreichen Gesamtwerk dar, auf das ich nun aber doch auch noch zu sprechen kommen möchte. Wohlgemerkt Werke aus dreißig Jahren künstlerischer „Nebentätigkeit“, denn der Künstler Wolfgang Dick tritt meistens in den Hintergrund, hinter den Graphik-Designer, den Kurator, den Kunstsachverständigen. Dabei wird er geleitet von einem sicheren Gespür für Kunst und Form und größere Zusammenhänge, was sich wiederum in seiner eigenen Kunst manifestiert.

Das künstlerische Zitat steht bei ihm an erster Stelle, das Schöpfen aus einem enormen Pool bildnerischer Aussagen und Positionen der Menschheit von ihrem Anbeginn, wie sie sich in den Tierbildern widerspiegeln bis hin zur Gegenwart, mit Bildern wie jene des arabischen Frühlings. Das Aufspüren und Kombinieren von Ikonen der Frühzeit, der Renaissance, der Moderne, von Logos und Slogans der Werbe- und Fernsehwelt, der menschlichen Kulturgeschichte per se, bildet seine Arbeitsgrundlage.

Und Wolfgang Dick wäre nicht Wolfgang Dick, wenn nicht hinter jedem Bildtitel und jedem Bildgegenstand eine tiefgründige Auseinandersetzung mit Kunst, mit Geschichte, mit aktuellem Zeitgeschehen, mit den oftmals nicht nachzuvollziehenden Greultaten menschlicher Machtwillkür und Intoleranz im Vordergrund stehen würde.
Gewalt Macht Lust
Oder vielleicht doch eher:
Gewalt macht Lust
Aufzählung oder Satz?
Diese Frage stellt der Künstler in den Raum ohne die Absicht sie zu beantworten, das soll der Betrachter tun. Wolfgang Dick versteht diesen provozierenden Ausstellungstitel als Möglichkeit, den gewohnten Blickwinkel auf die Exponate zu verschieben und die Fragen, welche die Werke im Kontext dieses Titels aufwerfen, zuzulassen.

Gleichzeitig entlarvt uns dieser Titel den Künstler, als feinsinnigen, wortgewandten Beobachter, als humorvollen Grübler, als sensiblen und kritischen Zweifler, der um die ungeheure Ästhetik und paradoxerweise manchmal auch Schönheit der Abgründe des Menschen weiß. Der Titel „gewalt macht lust“ soll aber keinesfalls als thematische Begrenzung für diese inhaltlich abwechslungsreiche Ausstellung verstanden werden.

Es ist nicht so, dass wir hier etwas zu sehen bekommen, was wir sonst nicht zu sehen bekämen oder wahrnehmen würden. Im Gegenteil, wir sind medial überfrachtet mit Bildern, auch mit Bildern des Grauens. Ein Bild erreicht uns hundertmal, tausendmal, man denke nur an die einstürzenden Türme der Twin Towers des World Trade Centers 2001, oder aber an das Bild einer jungen amerikanischen Soldatin, die einen wehr- und machtlos am Boden Liegenden demütigend an einer Hundeleine hält.

Lynndie England, die kleine unbedeutende Lynndie England, folgte sie in diesem Moment einem unkontrollierten Impuls oder einem Befehl? An keinem Bild der Ausstellung kann man die Bedeutung der Wortkette „gewalt macht lust“ besser festmachen, sie verweist auf Verletzung, auf Täter und Opfer, auf Triebhaftes aber auch auf eine obsessive Verknüpfung der drei Begriffe, die ihnen eine bedrohliche Dimension verleiht.

Lynndie England (GEWALT MACHT LUST) | Mischtechnik auf Sperrholz, Blei · 80 x 120 x 3 cm · 2012

Wolfgang Dick enthebt die Geschehnisse ihrer Zeit, macht sie zeitlos, gleichwohl zu Formeln, die sich universell auf das Unmenschliche im Menschen und das Leiden anwenden lassen. In der Form des Frieses, des Diptychon, des Triptychons, der Predella, aber auch im Einzelbild, nähert er sich Themen, deren ernüchternde Grausamkeit oft jenseits dessen liegt, was für uns vorstellbar ist. Und so präsentiert er sie uns auch, nicht nach Mitleid oder Sensation heischend, sondern nüchtern, die Form beherrscht den Inhalt und verursacht beim Betrachter keine Empathie, kein Mitleid, sondern regt dazu an, das Gesehene in einem größeren Zusammenhang zu reflektieren. Und hier macht sich auch die langjährige Erfahrung des Künstlers als Kurator bemerkbar.

Indem er die Passion Christi mit seinem Bildzyklus Passio in den Mittelpunkt rückt und alles andere drum herum gruppiert, etabliert er eine zeitlose Bezugnahme auf die erste, die bekannteste, in Bildern festgehaltene Darstellung von Folter und Hinrichtung, die nichts Glorifizierendes, Machtverherrlichendes hat, sondern das Leiden auf der einen Seite, das Leiden lassen auf der anderen Seite in den Mittelpunkt rückt.

Der Ursprung von Wolfgang Dicks „Passio“ liegt 1985 in einer kunstgeschichtlichen Auseinandersetzung mit dem Isenheimer Altar von Grünewald begründet. Matthias Grünewald hat mit diesem bemerkenswerten Altar, ein Kunstwerk expressiver Zeitlosigkeit, eine Metapher für das Leiden geschaffen. Sein Christus ist nicht der erhabene Sohn Gottes, der bleich aber ansonsten makellos sein Ende abwartet. Nein, es ist der geschundene Christus, der Schmerzensmann.

Seit der Romanik stellt man den gekreuzigten Jesus dar, als einen über den Tod triumphierenden, makellosen. Dies ändert sich in der Gotik, die Christus oft als geschundene Kreatur zeigt. Grünewalds Christus ist dabei die eindrücklichste Umsetzung des geschundenen Christus und das zu einer Zeit wohlgemerkt, da die Makellosigkeit und Idealisierung des menschlichen Körpers mit der Renaissance einen zweiten Höhepunkt nach der Antike erreicht hatte.

In einem anderen Bild Wolfgang Dicks begegnet uns verdeckt vom Michelinmännchen das Idealbild des Menschen, der vitruvianische Mensch, wie er 1490 von Leonardo da Vinci gezeichnet wurde. Grünewalds geschundener mit Wundmalen übersäter Christus entstand 1506. Dies nur als kleiner kunsthistorischer Exkurs hin zu dem, was im Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert von der Gotik zur Renaissance, nördlich und südlich der Alpen, zeitgleich entstehen konnte. Denn auch das ist diese Ausstellung, eine kleine Reise durch die europäische Kunstgeschichte.

Seinen ganzen Ausdruck von Schmerz und Verzweiflung legte Grünewald in die Hände seines Christus, die übergroß alle Verzweiflung und den Todeskampf zum Ausdruck bringen. Das Motiv der Hände, den Ausdruck der Verzweiflung, den stummen Schrei nimmt Wolfgang Dick auf und isoliert sie in seinem Kreuzigungsfries oder der Nelkenpieta. Grünewalds gemarteter Christus aus dem Isenheimer Altar ist die Inspiration, er regt an zum Zitat, doch in der Umsetzung beschreitet Wolfgang Dick ganz andere Wege, ja er macht diesen Christus zum Icon, zum Logo als das Synonym einer christlichen Gesellschaft für Leiden, für Ungerechtigkeit und selbst die Machtlosigkeit Gottes vor menschlicher Machtwillkür.

Kreuzigungsfries | Mischtechnik auf Karton/Spanplatte · 20 x 120 x 4 cm · 2006

Mit der Passio hingegen beginnt Wolfgang Dick zu experimentieren. Er schweißt die ursprünglichen bemalten Kartons in einer rötlich-wässrigen Lösung in Plastikbeutel ein und setzt dadurch einen Prozess in Gang, der sich seinem Einfluss entzieht. Eine Veränderung findet statt durch die Schimmelbildung der Pappen, durch die organischen Farbpigmente und eingearbeiteten Rosenblütenblätter. In einem weiteren Arbeitsschritt übermalt der Künstler die Folien mit Silberfarbe. Das Gegenständliche reduziert sich auf Zeichen. Und erst in der Gegenüberstellung von ursprünglichem Motiv und aktuellem Resultat eröffnet sich dem Betrachter die Bedeutung der reduzierten Form. Das Ziel der Arbeit wechselt vom Nachvollziehen zu einer Neuinterpretation des Themas Kreuzweg: als Gleichnis für Neubewertung und Veränderung zentraler christlicher Glaubensmotive, wie wir sie heute vermehrt erfahren.

In die Wortkette „gewalt macht lust“, reiht sich auch das zentrale Thema der Ausstellung, die ganz aktuell entstandenen Stierkampfbilder, die inspiriert durch einen Aufenthalt in Südfrankreich und Spanien, erst in diesem Herbst entstanden sind. Im ersten Moment glaubt man sich sicher zu sein, dass hier der Ausstellungstitel seine Legitimation als Satz erfährt: macht Gewalt Lust? Aber ist das wirklich die Frage, die hier gestellt werden soll? Es ist nicht Wolfgang Dicks Anliegen, über Sinn und Unsinn von Stierkämpfen zu reflektieren noch sich für ein Pro oder Contra zu positionieren. Dies tut er übrigens in keinem seiner Bilder, die Gewalt zum Thema haben. Er zeigt, er fragt, aber er verurteilt nicht. Der Stierkampf, dieses heute höchst umstrittene und in Frage gestellte spanische Kulturgut, wird sowohl bei den künstlerischen Vorbildern Goya und Picasso, als auch beim zitierenden Wolfgang Dick zu einem Sinnbild, das vom Leben und Sterben der Kreatur handelt. Er erzählt von der artistischen Überlegenheit des Einzelnen gegenüber den wütenden Kräften der Natur. Und wieder stellt der Künstler hier die ganze Palette seines Könnens unter Beweis in Form des künstlerischen Zitats, dabei gelingt es ihm mittels dieser Stierkampfbilder einen Bogen zu spannen von Goya zu Picasso, vom innenpolitisch zerrütteten Spanien des ausgehenden 18. Jahrhunderts bis zum vom Bürgerkrieg gebeutelten Spanien des 20. Jahrhunderts. Wolfgang Dick vereint die Formensprache der beiden Künstler, leitet ohne Mühe von Goyas Tauromachie zu Picassos schroffen Zeichenstrich und abstrahierender Flächigkeit über und stellt dabei ganz nebenbei sein eigenes zeichnerisches Talent unter Beweis.

Sowohl Goya als auch Picasso waren leidenschaftliche Anhänger des Stierkampfes. Goyas Stierkampfbilder sind unmittelbar nach dem Ende des napoleonischen Kriegs entstanden und zeugen von Goyas Stolz auf seine spanische Identität. Der Stier steht hier für den französischen Feind, während der Stierkämpfer das spanische Volk bzw. seine Anführer im Guerillakampf vertritt. Ähnlich verhält es sich bei Picasso, auch seine Stierkampfbilder sind Ausdruck seiner politischen Haltung als überzeugter Anhänger der Republik und Gegner des Franco-Regimes.

Die Faszination für den Stierkampf liegt bei Wolfgang Dick darin, dass im Rund der Arena Choreographie und Ästhetik auf Tod und Gewalt stoßen. Diese Gegenüberstellung fordert ihn als Künstler heraus, genauso wie die sich schnell verändernden Machtpositionen innerhalb des Kampfes zu zeigen. Wer gewinnt die Überhand, wer ist der Herr in der Arena? Dabei wirken seine Zeichnungen wie kurze Momentaufnahmen, fast schon fotografisch, als würde die Zeit für einen kurzen Moment stehen bleiben. Die euphorische Stimmung der Arena, das ästhetische Spektakel aus bunten Farben, gleißendem Sonnenlicht und tiefrotem Blut auf gelbem Sand ersetzt er durch schwarz und pastos aufgetragenes Weiß, durch das Braun des Bildträgers Karton und lenkt somit die Aufmerksamkeit auf den Kampf zwischen Mensch und Tier. Um den Stierkampf zu verstehen, muss man ihn in seiner ganzen kulturhistorischen Bedeutung sehen, die zurück geht zu den frühen Höhlenmalereien und dem kretischen Minoskult, worin es immer um die ehrfürchtige Verehrung des Tieres, aber auch um das Überleben und die Machtdemonstration des Menschen geht. In diesem Zusammenhang antwortet dieser zuletzt entstandene Zyklus auf eine Werkserie Wolfgang Dicks, die ihren Ursprung in den 80er Jahren nahm, die Tierbilder. Mit dem direkt am Eingang gezeigten Werk Urpenetration und denen im letzten Saal gezeigten Tierbildern und dem Tierversuchfries bilden sie eine Klammer um die Arbeiten aus 30 Jahren.

Große Künstlernamen sind in den letzten Minuten gefallen, Leonardo Da Vinci, Grünewald, Goya, Picasso und diese Reihe lässt sich mit den anderen Arbeiten Wolfgang Dicks mühelos fortsetzen, Duchamp, Malewitsch, Bourgeoise, Crumb. Sie alle verbindet etwas, alle waren sie unbequem, unangepasst, auch ana chistisch genau wie der hier: Fritz the Cat.
Alle haben sie nach neuen Wegen und Lösungen gesucht, sich nicht mit dem zufrieden gegeben was die großen Akademien oder Lehrmeister ihnen aufzwingen wollten. So gilt Grünewald als der erste Expressionist, Goya als der erste Impressionist, so ist Picasso das Synonym für das 20. Jahrhundert schlechthin, Duchamp war derjenige, dem nichts heilig war, und Malewitsch spuckte auf die klassische Kunst.

Die antiklassische Kunst des frühen 20. Jahrhunderts steht bei Wolfgang Dick im Mittelpunkt. Er sammelt, zitiert und kombiniert alles neu und baut damit auf dem Wiedererkennungseffekt auf. Unsere Welterfahrung ist es letztendlich, die seine Bilder interpretiert. Durch die Schaffung neuer, mitunter ungewohnter Bezüge öffnet er Möglichkeiten für eigenes Weiterdenken. Ein Spielfeld voller Anstöße tut sich für den Betrachter auf, mitunter auch ein sehr anstößiges Spielfeld, denn immer wieder thematisiert der Künstler auch das Geschlechtliche, die Lust. Themen wie Pornographie und Masturbation. Denn auch sie sind immer wieder fester Bestandteil der Werke der Moderne – wahrscheinlich fühlt sich der hier: Fritz The Cat deshalb so wohl in diesem Umfeld.

Duchamp verband mit seiner Schokoladenmühle nicht nur seine stilistische Loslösung vom Kubismus, sondern auch eine auto-erotische Dimension als Sinnbild der Onanie. Die von Wolfgang Dick angebrachte Textzeile „Die moderne Malerei findet nicht statt“ erläutert die Darstellung nicht, sondern umreißt einen Deutungsrahmen, der den Betrachter zum Nachdenken auffordert und ihm die Interpretation überlässt. Was die Bombe im Arm des Michelinmännchens darstellen könnte, bleibt letztendlich der Phantasie des Betrachters vorbehalten, wie schon gesagt: Wolfgang Dick liefert hier nur Anstöße.

Bib le bombe · Tuez ça/Tu es ça, Leonardo/Pharma-Michelinmann 3 2014, Collage/Mischtechnik auf Karton, 47 x 37 cm

In der großen Themenfülle, die er uns präsentiert, ist dem Künstler vor allem eines wichtig: die Form. Manche Bilder hat er im Laufe der Zeit immer wieder überarbeitet, auf der Suche nach der reinen Form, wovon am eindrücklichsten sein Werk Maroc zeugt, das sich zwischen Eigenwert von Form und Farbe, zwischen Abstraktion und Konstruktion bewegt. Farbe wird bei ihm immer als Form eingesetzt. Die Farbwirkung widerspricht, neutralisiert oder verstärkt den Inhalt.

Wie die breite Spanne von Maroc, über das Michelinmännchen bis hin zurHommage an Goyas Tauromachie zeigt, ist Wolfgang Dick ein Künstler, der sich nicht festlegen lässt. Der weiterhin aus der großen Kunstgeschichte, dem „Gedächtnis der Menschheit“ zitieren wird, um daraus Neues entstehen zu lassen, bzw. damit zu spielen, denn wie Kurt Schwitters sagte: »Ein Spiel mit ernsten Problemen. Das ist Kunst.«

Fritz The Cat raunt mir aber gerade zu, dass es jetzt reicht, er hat Durst.


alles muss raus

Prof. Dr. Nils Büttner im Katalog zur gleichnamigen Ausstellung · 2014

Wo kommt die Kunst her, wo fängt sie an und wo hört sie auf? Keine Frage der Künstler ist ihr Urheber. Deshalb steht am Beginn der reflektierenden Beschäftigung mit moderner Kunst so gerne die Frage: was hat sich der Künstler wohl dabei gedacht? Die Frage ist nicht verkehrt. Es gibt ja eh keine falschen Fragen. Oft greift sie aber viel zu kurz. Dann nämlich, wenn der Künstler sich gedacht hat, dass der Betrachter denken soll.

Aber muss man denn immer gleich denken? Sicher nicht. Vor dem Denken stehen das Sehen und Erleben. Man betritt den Ausstellungsraum, schaut und wird eingeladen, sich auf das Gesehene einzulassen. Bringt man diese Bereitschaft mit, werden durch das Hinschauen Gefühle geweckt. Sie sind da und bestimmen, was überhaupt in den Fokus der Aufmerksamkeit gerät. Doch transportieren Kunstwerke stets auch etwas, was ganz aus ihnen zu kommen scheint.

Was man als Betrachter sieht, fühlt, ahnt oder versteht, hängt immer auch von dem ab, was man selbst gesehen oder gefühlt hat. Vieles davon, so subjektiv und individuell gefühlt es sein mag, sind vielfach geteilte Erfahrungen, An- und Einsichten. Sie machen es möglich, dass Künstler durch das von ihnen Hervorbrachte in ihrem Publikum etwas ganz B stimmtes zum Klingen bringen. Dem Künstler mag im Prozess des Schaffens sein Publikum egal sein, muss es vielleicht sogar. Anders ist das, wo Kunst gezeigt wird. Man muss das Kuratieren nicht zur Kunst erklären und wird dennoch kaum der Einsicht entkommen, dass Kunst durch die Form ihrer Präsentation gewinnen oder verlieren kann. Das gilt zumal, wo es um Bilder geht. Denn Bilder können durch ihren Kontext gestärkt, getragen oder vernichtet werden. Bilder können einander kommentieren, bereichern oder überflüssig machen. Es ist deshalb nur konsequent, wenn jemand, der Kunst macht, diese auch zeigt und im besten Falle auch die Form ihrer Präsentation kritisch begleitet. Selbstverständlich ist es dennoch nicht.

Für Wolfgang Dick sind Kunst machen und Kunst zeigen untrennbar miteinander verbunden und doch zwei Seiten einer Medaille. So erklärt es sich auch, dass er immer Kunst zeigte und doch 23 Jahre wartete, bis er nun auch seine eigenen Werke wieder ausstellt. Zwischen 1980 und 1985 hat er an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart Freie Grafik und Kunsterziehung studiert. Parallel zu seinem Studium bei Peter Grau, Sotirios Michou und Rudolf Schoofs absolvierte er dabei ein kunstwissenschaftliches Studium an der Universität Stuttgart. Nach Abschluss der Lehramtsausbildung arbeitet Wolfgang Dick als Grafikdesigner. Von 1979 bis 1989 war er als Kunstbeiratsmitglied in Kirchheim für das Ausstellungsprogramm der Städtischen Galerie im Kornhaus mitverantwortlich.
Die künstlerische Tätigkeit entwickelt sich parallel zu Kommunikationsdesign und kontinuierlicher kuratorischer Arbeit. Seit 1979 ist er auch mit der Kunstsammlerin und Mäzenin Doris Nöth befreundet, die er seit vielen Jahren beratend begleitet. Von 1990 bis 1992 führten beide die Galerie Nöth. Auch in der Begleitung der Übergabe der Sammlung Nöth an die Stadt Ehingen war Wolfgang Dick im besten Sinne als Kunstvermittler tätig.

Das Ausstellen von Kunst und die eigene künstlerische Produktion sind für Wolfgang Dick ebenso miteinander verbunden wie seine Kunst stets mit seiner Biographie verknüpft ist, ohne deshalb biographisch zu sein. Fühlen, Machen und Denken sind nicht miteinander identisch aber im Schaffensprozess untrennbar miteinander verknüpft. Zum affektiven Akt des Malens und Machens tritt bei Dick die reflektierende Distanznahme und ein nachdenklicher Blick auf das Geschaffene. Diese kritische Sichtung des eigenen Tuns ist zwingende Voraussetzung einer Kunst, die jemanden oder etwas erreichen will. Dicks Bilder sind nicht didaktisch und doch sollen sie spürbar etwas vermitteln. Das erweist sich besonders deutlich im Spiel mit den ikonographischen Traditionen der abendländischen Kunst. Dick setzt sich mit den traditionellen Themen der christlichen Bildkunst auseinander, die er auf ihre überzeitliche Gültigkeit befragt. Er referiert aber auch auf die dezidiert antiklassische Kunst des frühen 20. Jahrhunderts, wenn er sich zum Beispiel mit Marcel Duchamps Schokoladenmühle auseinandersetzt. „Die moderne Malerei findet nicht statt“ heißt es zum Beispiel auf einem 1987 in Mischtechnik ausgeführten Bild, in dem das berühmte Motiv aus dem Jahr 1914 zitiert wird. Die Textzeile erläutert die Darstellung nicht, sondern umreißt einen Deutungsrahmen, der den Betrachter zum Nachdenken auffordert und ihm die Interpretation überlässt.

Genauso funktioniert auch der von Wolfgang Dick gestaltete Katalog, der vom Anspruch getragen ist, Denkprozesse anzustoßen. Das beginnt schon mit dem Einband, auf dessen Titel und Rücken dezent der marktschreierische Titel der Ausstellung zu lesen ist. Nicht in werbend blockhafter Typographie, sondern in Rücksicht auf das bildliche Motiv an den Rand gerückt. Es wird erst zum Bild, wenn man das aufgeschlagene Buch mit dem Rücken nach oben auf den Tisch legt. Das soll man eigentlich nicht tun, weil dadurch die Bindung leidet. Aber nur dann wird es sichtbar, das weit aufgerissene Maul mit den gelblichen Zähnen, ein Ausschnitt aus Dicks Kreuzigungsfries. In Kombination mit dem typographischen Titel lässt es sofort an die schreiende Werbebotschaft denken. Zugleich entspricht es aber auch einem sprachlichen Bild, das der Maler und Kunstschriftsteller Karel van Mander 1604 erfand, um die Unmittelbarkeit der Landschaftsbilder Pieter Bruegels d.Ä. und deren Wirkung auf den Betrachter zu charakterisieren. Man sage von Bruegel, schrieb van Mander, „er habe, als er in den Alpen war, all die Berge und Felsen verschluckt und sie, nach Hause zurückgekehrt, auf Leinwände und Malbretter wieder ausgespien, so nahe vermochte er in dieser und anderer Beziehung der Natur zu kommen.“ Die Wahrheit dieser Bilder verdankte sich einer Genauigkeit des Hinsehens, die eine Bildwirkung zur Folge hatte, deren Unmittelbarkeit van Mander in das abstoßend körperhafte Bild des Verschlingens und wieder Ausspeiens fasste.

Für Wolfgang Dick liefert weniger die den Menschen umgebende Natur das Material seiner Werke, als jene eindringlichen Bilder der Kunst und der Medien, die zum kollektiven Bilderfundus gehören. Zu diesem Musée imaginairegehören nicht nur die Bilder der Kunst sondern auch jene des medialen Alltags und der populären Kultur. Wo Jean Arp auf Mickymaus und Hans Bellmers Puppen trifft wird das Bild ganz von selbst zu einem Kommentar der medialen Kindheit. Es wäre dabei aber zu wenig, die Bilder Dicks auf ihre Motive reduzieren zu wollen. Denn nicht nur die Motive sind einem Prozess des Reflektierens unterworfen, sondern auch die stets bewusst gewählten bildnerischen Mittel. Die Form und Materialität eines Bildes werden, als dessen medienspezifischer Inhalt, genauso in den Prozess des Bedenkens und Reflektierens einbezogen. Und doch wirkt es nicht so, als seien die Bilder in ihr Sosein gezwungen worden. Die innere Notwendigkeit, die der Gestaltung zugrunde liegt, bleibt soweit unter der Oberfläche, dass sie auch ohne viel Nachdenkens selbstverständlich wirken und für den, der sich auf sie einlässt, zum Spiegel werden können.